Carolas 1. Flucht, 2. Tag, abends

Während meiner ersten Kursstunde in dem Diskussionskreis musste ich ständig an Carola denken. Was war bloß los mit ihr? Schon gestern war sie ja so komisch gewesen. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht so in die Diskussion einbrachte, wie eigentlich geplant gewesen war. Hier fühlte ich mich nun total falsch. Das war doch reine Zeitverschwendung. Es gab nun wirklich Wichtigeres zu klären, als auf Schwedisch über die schwedische Tagespolitik zu sprechen, die mir, gerade heute, wirklich total am Arsch vorbei ging.

Nach dem Kursus beeilte ich mich, erst einmal noch schnell nach Hause zu kommen, da ich seit dem Morgen, ich hatte ja nicht geahnt, dass ich bis abends unterwegs sein würde, nichts mehr gegessen hatte. Durch feste Nahrung im Magen gestärkt, sah ich zu, dass ich zu Horst in die Kneipe kam. Hoffentlich hatte sich die Laune von Carola inzwischen wieder gebessert, dachte ich mir noch auf dem Weg im Stillen. Um mit ihr ein vernünftiges Gespräch führen zu können, musste sie wenigstens ein wenig zugänglich sein. Ich kapierte einfach nicht, warum sie so launisch war. Es hatte zwischen uns keinen Streit gegeben. Wie sollte das auch, wenn sie, wie gestern, einfach nur stumm war, die Klappe runter schlug und hinter ihrem Visier verschwand, und niemand bekam mit, warum.

Ich ging an der Vorderfond des »Carrickfergus« an deren Fenster vorbei, und dann durch die seitliche Eingangstür in die Kneipe.

 

Dieses, an der Kneipe und deren Fenster Vorbeigehen, sollte noch, fünf Tage später, auf dem Rasen hinter dem Haus meiner Schwester, eine kleine Rolle in dieser Geschichte bekommen.

 

Bei Horst stand Carola am Tresen und machte immer noch ein Gesicht als ob ihr eine Laus, in der Größe eines Elefanten, über die Leber gelaufen war. Sie goss sich selbst aus einer Flasche Wein ein. Ein Privileg, das sie in dieser Kneipe besaß, da sie früher, bevor sie nach Hannover gezogen war, auch hinter dem Tresen gestanden hat. Mich schaute sie kaum an, war abweisend und blickte, wenn irgendwie möglich, in eine andere Richtung, so als ob sie mir nicht in die Augen sehen konnte. Als ich ihr zur Begrüßung auf die Wange küssen wollte, zuckte sie regelrecht zurück. Auf ein Gespräch ließ sie sich dort in der Kneipe überhaupt nicht ein, sondern beschäftigte sich hauptsächlich damit, auf die Weinflasche zu starren. Nachdem ich zwei Guinness getrunken hatte, fragte Carola endlich, ob wir jetzt nach Hause gehen könnten. Ich nickte stumm, zahlte, und wir beide gingen auf die Straße.

Carola ging ungefähr mit zwei Metern Abstand, wie bereits gestern in Ratzeburg, stumm und abweisend neben mir. Ging ich leicht schräg auf sie zu, um den Abstand zu verringern, wich sie in gleicher Weise aus, um den Abstand zu wahren.

Wir waren schon einige Hundert Meter gegangen, als Carola endlich den Mund aufmachte.

Und, wie war der Kurs?“

Was sollte diese Plattitüde? Das war doch sicher nicht die Frage, die ihr auf der Leber lag.

War ganz nett. Wir haben über alles Mögliche diskutiert.“

Und die Leute, sind die nett?“

Ja, die sind ganz witzig“, erwiderte ich, obwohl ich, weil ich während des Kurses gedanklich mit Carola beschäftigt gewesen war, von den anderen Teilnehmern kaum etwas mitbekommen hatte.

Na, dann hast du ja schon neue Freunde für Lübeck gefunden.“

Das kam so trocken, geradezu eiskalt aus ihrem Mund, dass ich sie nur sprachlos von der Seite anschauen konnte. Carola musste gemerkt haben, dass ich sie völlig irritiert anstarrte, sie ließ sich aber nichts anmerken, sondern ging stumm, den Blick geradezu auffällig starr gerade aus, mit fast zwei Metern Abstand zu mir, darauf achtend, dass ich den Abstand nicht verringern konnte, weiter.

Ich war mal wieder absolut baff. Erstens hatte Carola das in so einem harten, abweisenden, ja kalten Ton gesagt, dass es richtig wehtat; und zweitens, was sollte dieser Spruch. Ich wollte und sollte so schnell wie möglich nach Hannover ziehen. Warum sollte ich da noch neue Freunde für Lübeck finden? Der Kurs sollte in vier Monaten zu Ende gehen, und bis dahin sollte für den Umzug schon alles klar sein. Sollte ich bereits schon vorher einen Job in Hannover bekommen, sollte der Umzug sogar schon vorher stattfinden. Den ganzen Weg nach Hause war Carola abweisend, ja richtig kalt, und nur darauf bedacht, dass der Sicherheitsabstand zwischen uns sich nicht verringerte.

Außer dem Hinweis, mit meinen tollen neuen Freunden in Lübeck, sagte Carola nichts auf dem Weg nach Hause. Es war absolutes Schweigen im Walde. Selbst das Rauschen von Bäumen fehlte in den nächtlichen Straßen von Lübeck.

Bei mir zu Hause angekommen setzte Carola sich gleich stumm auf das Sofa im Wohnzimmer. Dort saß sie mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihr etwas tierisch auf dem Magen lag. Aber der Ausdruck sah nicht nur gequält aus, sondern hatte immer noch etwas Maskenhaftes, Versteinertes an sich.

Ich wollte endlich wissen, was mit ihr los war, und ging vor dem Sofa im Wohnzimmer nervös auf und ab.

Was ist los mit dir?“

Keine Antwort.

Carola, würdest du mir bitte sagen, was mit dir los ist. Du bist abweisend wie ein Stein.“

Du stellst die falsche Frage.“

Batsch. Das war kurz und hart. Kalt ausgesprochen, ohne Emotion.

Wieso? Du hast doch eindeutig was. Und ich möchte gerne wissen, was es ist.“

Das ist die falsche Frage.“

Der gleiche kalte Ton.

Wieso?“

Wenn du die richtige Frage stellen würdest, könnte ich dir auch antworten.“

Das klang schon richtig pampig. Wie ein kleines Kind, das: »Ich will aber den Lutscher haben«, trotzig von sich gab. Ihr Gesichtsausdruck, hart wie Stein, hatte sich dabei nicht verändert.

Was soll denn der Quatsch?“

Während Carola auf dem Sofa saß, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und schaute sie nicht verstehend und völlig verzweifelt an.

Ich finde schon, dass du auf diese einfache Frage eine Antwort geben kannst. Es ist doch klar zu sehen, dass du etwas hast. Und ich möchte wissen, was es ist.“

Du stellst nicht die richtige Frage.“

Was, verdammt noch mal, ist die richtige Frage?“

Ich war wohl bei der Frage etwas lauter geworden. Carola schaute mich jetzt direkt an. Ihr maskenhafter Gesichtsausdruck hatte einen kleinen Knacks bekommen. Ich hatte sie erschreckt. Trotz aller Panik, die ich selbst in mir fühlte, war mir klar, dass das nicht passieren durfte. Mit Angst kamen wir hier nicht weiter. Ich ging durch das Zimmer, setzte mich vor ihr auf den Fußboden, umschlang vorsichtig ihre Unterbeine und legte meinen Kopf auf ihre Knie.

Carola, da du anscheinend die richtige Frage kennst, ja anscheinend sogar die Antwort, die du darauf geben würdest, musst du mir schon sagen können, wie die Frage lautet. Wie soll ich denn darauf kommen, wenn die Frage, was mit dir los ist, die Falsche ist?“

Das kann ich dir nicht sagen, darauf musst du schon selbst kommen.“

Das erste Mal, dass ihre Stimme nicht den eisigen trotzigen Ton hatte, sondern etwas ängstlich klang.

Ich weiß nicht wie. Du musst mir schon sagen, wo ich da ansetzen muss.“

Das ist nicht so einfach.“

Wieso ist das nicht einfach? Du musst doch wissen, was mit dir los ist.“

So einfach ist das nicht. Ich bin eben ein schwieriges Mädchen. Du musst schon die richtige Frage stellen.“

Der ängstliche Ton war wieder verschwunden. Wie ihr Gesicht aussah, konnte ich aus meiner Position nicht sehen, aber der Ton wies darauf hin, dass das kleine schwierige, bockige Mädchen wieder den Lutscher haben wollte. Ich hatte meinen Kopf immer noch auf ihren Knien. Ich schüttelte verzweifelt leicht mit dem Kopf.

Woher soll ich wissen, was die richtige Frage ist.“

Endlich rückte Carola damit raus.

Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken.“

Jetzt hatte der Ton wieder den harten abweisenden Klang, wie schon vorhin auf der Straße, auf dem Weg in meine Wohnung.

Worüber?“

Über uns.“

Wieso über uns, was ist passiert?“

Ich hab vorgestern bei der Geburtstagsfeier jemanden wieder gesehen, wo ich eigentlich dachte, dass da nichts mehr ist. Aber gestern habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt.“

Der Ton war immer noch eisig. Ich schaute zu ihr auf. Ihr Gesicht war maskenhaft, trotzig, abweisend, kalt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Was meinst du damit?“

Carola erzählte dann von Thomas. Mit Thomas war sie früher oft zusammen Wein trinken gegangen, haben zusammen etwas herum geschmust. Selbst wenn sie einen festen Freund gehabt hat. Des Öfteren sind ihre früheren Freundschaften wegen Thomas auseinandergebrochen. Aber sie hat sich doch immer wieder mit ihm getroffen. Zum gemütlichen Wein trinken und herumschäkern. Angeblich war da aber nie mehr gewesen. Sie hatte ihn vorgestern, das erste Mal seit Jahren, wieder gesehen. Und jetzt meinte sie, war sie sich ihrer Gefühle nicht sicher.

Und, willst du mit ihm zusammen sein?“

Nein, das wird nie was. Thomas würde nie mit mir etwas anfangen.“

Das war eigentlich keine Antwort auf meine Frage. Ich wollte wissen, ob du was mit ihm anfangen würdest.“

Wieso sollte ich, wenn er sowieso nicht will.“

Das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage.“

Ich weiß nicht. Ich muss darüber nachdenken.“

Mein Gott, du hast doch noch am Freitagabend, ja selbst vorletzte Nacht noch gesagt, dass ich der Richtige wäre.“

Das weiß ich auch. Du bist auch der Richtige. Aber bist du das auch in zwei oder in drei Jahren? Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“

Wenn du der Auffassung bist, dass ich der Richtige bin, wieso zweifelst du dann daran, ob ich das auch noch in zwei oder drei Jahren sein werde?“

Wie soll ich das denn heute schon wissen?“

Hab ich irgendwie Mist gemacht? Irgendwas Falsches? Hab ich dir wehgetan?“

Nein, das hast du nicht.“

Was ist dann jetzt auf einmal mit uns, mit mir?“

Ich weiß es wirklich nicht.“

Carolas Stimme, die eben noch regelrecht kalt gewesen war, hatte sich plötzlich total verändert. Auch mit dem versteinerten Blick war es vorbei. Ich schaute ihr ins Gesicht. Sie war kurz davor loszuheulen. Die Augen glänzten schon vor Nässe. Dann brach es, mit Tränen in den Augen, aus ihr regelrecht heraus.

Ich weiß es doch selbst nicht. Du bist das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist, aber ich kann so einfach nicht weiter machen.“

Das war blanke Verzweiflung, so wie sie das aus sich heraus stieß. Ich hatte das Gefühl, ich wäre mit 200 km/h gegen eine Wand geknallt. Ich verstand das alles nicht. Was war bloß mit der Frau los.

Du sagst, ich wäre das Beste, was dir je passiert ist, willst mich aber trotzdem verlassen.“

Nein, nicht verlassen. Ich brauch aber Zeit, um über meine Gefühle klar zu werden.“

Du sagst, ich wäre der Richtige, das Beste, was dir je passiert ist; und doch brauchst du Zeit um nachzudenken?“

Ja, ich weiß, das klingt bescheuert. Aber ich kann es nicht ändern.“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Da saß eine fast vierzigjährige Frau vor mir auf dem Sofa, sagte mir, dass ich der Richtige sei, das Beste, was ihr je in ihrem ganzen Leben passiert wäre; vor ein paar Tagen hatte sie mir auch noch gesagt, ich wäre der Erste, mit dem sie sich überhaupt vorstellen konnte, unter einer großen Decke zusammen zu schlafen, und jetzt hieß es plötzlich, dass sie sich von mir lösen wollte. Nicht direkt lösen, aber sie erst einmal eine Zeit zum Nachdenken benötigte. Und dabei bestätigte sie gleich noch einmal, dass ich das Beste ... ....

Aber trotzdem.

Und dabei war sie, entgegen der ganzen Zeit in der Kneipe, auf dem Weg nach Hause, und die erste Zeit auf dem Sofa, jetzt das heulende, verzweifelte und völlig aufgelöste Elend.

Ich brauchte dringend etwas zu trinken. Ich hatte zu Hause noch eine Sektflasche, die es mal vor Jahren, als Werbegeschenk zu Weihnachten, von einem Lieferanten gegeben hatte. Ich stand auf, nahm die Flasche und suchte Gläser, während ich die Flasche leicht in Carolas Richtung hob.

Willst du auch was?“

Sie schüttelte den Kopf. „Trinken hilft da auch nichts.“

Da magst du recht haben, aber ich brauche trotzdem jetzt einen Schluck.“

Das weitere Gespräch war dann, während ich fast die ganze Flasche alleine leerte, ohne dass ich das Gefühl bekam, endlich eine betäubende Wirkung des Alkohols zu spüren, immer wieder um das gleiche Thema herumgekreist. Carola hatte noch einmal, völlig aufgelöst, mit Tränen in den Augen, gebeichtet, dass ich wirklich das Beste wäre, was ihr je in ihrem Leben passiert ist, und dass sie glaubte, dass ich wirklich der Richtige für sie sei.

Es änderte aber nichts daran, dass sie Zeit zum Nachdenken benötigte.

Irgendwann saß ich wieder im Schneidersitz auf dem Fußboden vor ihr, umklammerte wieder vorsichtig mit meinen Armen ihre Unterbeine, und küsste zärtlich ihre Jeanshose in der Höhe ihrer Knie.

Ich liebe dich. Ich will dich nicht verlieren.“

Ich schaute zu ihr hoch. Carola saß stumm auf dem Sofa, starrte mit total verheulten Augen, an mir vorbei, an die Wand hinter mir, und blieb stumm.

Irgendwann war es Zeit, ins Bett zu gehen. Ich war müde. Ich verstand das alles nicht. Ich wusste nicht, was die richtige Frage war, die ich stellen sollte, und ich verstand nicht, dass ich zwar das Beste sein sollte, was ihr in ihrem ganzen Leben bis jetzt passiert war, sie aber trotzdem über unsere Beziehung nachdenken musste. Ich verstand nicht, was das mit Thomas sein sollte, wenn doch ich angeblich das Beste ... ..., und der Erste unter einer gemeinsamen Decke ....

Ich bin fertig. Ich kann nicht mehr. Ich muss ins Bett.“

Kann ich noch diese Nacht hier schlafen, oder schmeißt du mich gleich raus?“

Glaubst du wirklich, ich würde dich mitten in der Nacht rausschmeißen?“

Carola sagte darauf nichts, schaute mich nur mit einem verheulten Blick an, der irgendwo zwischen Zweifel, Verzweiflung, wehleidig, und Ähnlichem lag.

Im Bett lagen wir still nebeneinander. Meine Nerven rebellierten, ich starrte gegen die Zimmerdecke.

Am liebsten würde ich dich jetzt in den Arm nehmen, und ganz doll mit dir schmusen.“

Dann tu es doch,“ antwortete Carola.

Ich nahm Carola in den Arm, und wir küssten uns lange. Dann küsste ich sie auf die Brust, Bauchnabel und am ganzen Körper. Ich küsste und liebkoste sie so lange, bis sie einen Orgasmus bekam.

Irgendwie war die ganze Situation pervers. Es hatte mir auch überhaupt keinen Spaß gemacht. Das da, was da in meinem Bett passierte, das hatte nichts mit Zärtlichkeit und Zuneigung zu tun, sondern nur mit »Abbau von inneren Spannungen«. Es war ein Ventil für die Verzweiflung gewesen.