Prolog des Buches: Adam und Eva - oder - Die Vertreibung aus dem Paradies


Eli saß auf einer Mauer, am Vorhof des im Bau befindlichen Tempels. Er schaute gedankenverloren über die Baustelle und über den Markt auf dem Vorplatz. Händler standen hinter ihren aufgestellten Ständen, um ihre Ware lauthals anzupreisen. Er sah die Menschenmassen, die sich dicht gedrängt durch die schmalen Gänge schlängelten. Wie sie etwas kauften, oder auch nur den Marktschreiern zusahen.

Sechs Jahre wurden jetzt schon an dem Tempel gebaut. Bald würde der Bau fertiggestellt sein. Noch ein knappes Jahr, und König Salomo und die Priester konnten das Haus Jehovas einweihen. Eli bewunderte den Bau. Der Tempel bestand aus großen Sandsteinquadern, und aus Zedernholz für das Dach, das Portal und die Zwischendecken.

Der Tempel, ein Gebäude von sechzig Ellen Länge, zwanzig Ellen Breite und einer Höhe von dreißig Ellen, war eine technische Meisterleistung. Salomo hatte extra phönizische Baumeister aus Tyros kommen lassen, die die Leitung des Bauvorhabens übernommen haben.

Die Wände des Tempels ragten senkrecht in den Himmel. Es war das größte Bauwerk, das je in Israel geschaffen worden war. Ein rechteckiges Gebäude, mit einem zweiflügligen Eingangsportal, durch das drei Menschen übereinandergestellt hätten durchschreiten können. Vor dem Portal war ein, auf Säulen gestützter, überdachter Vorbau. Die Haupthalle des Tempels, die die gesamte Höhe des Gebäudes einnahm, war an drei Seiten mit dreigeschossigen Seitenflügeln umbaut. Dort sollten die Schätze des Tempels gelagert werden.

Die Innenwände des Tempels sollten mit edlen Stoffen, Farben und viel Gold verkleidet werden. Wenn erst einmal alles fertiggestellt sein wird, würde das Tempelinnere, im Schein der Öllampen, überirdisch leuchten und glänzen. Eli war sich sicher, dass man die Anwesenheit Gottes dann spüren wird.

»Die Einweihung wird ein großer Tag werden«, dachte Eli bei sich. Als Mitglied der Priesterschaft durfte er die Einweihung auch im Tempel miterleben. Nur das Allerheiligste, den Debir, ein, durch einen Vorhang abgetrennter Raum, am Ende der Haupthalle, wird er nicht betreten dürfen. Das war nur dem König, dem Hohepriester und den vier Trägern der Bundeslade vorbestimmt.


Die Bundeslade. Der größte Schatz der zwölf Stämme Israels. Eine mit Gold verkleidete Truhe aus Akazienholz, in der die Steintafeln mit den Zehn Geboten aufbewahrt wurden. Vor vielen Generationen hatte Moses diese Steintafeln, damals, als er das Volk Israel, aus der Sklavenherrschaft Ägyptens, in das Land Kanaan führte, auf dem Berg Sinai, direkt von Gott erhalten. Zwei auf dem Deckel thronende Cherubim bewachten den Schatz.


Der Einzug der Bundeslade in das Allerheiligste sollte der wichtigste Teil der Einweihungsfeier werden. Eli hatte gehofft, als Träger für die Bundeslade ausgesucht zu werden. Aber die vier ältesten Priester hatten das Recht für sich beansprucht, auch wenn sie schon in einem Alter waren, in dem es ihnen schwerfallen würde, die schwere Bundeslade zu tragen.

Eli freute sich schon auf die große Feier. Und doch zeigten seine Gesichtszüge tiefe Sorgenfalten. Gestern war er schon zur frühen Morgenstunde, zu einem Gespräch, zum König vorgeladen worden. Salomo hatte bei dieser Vorladung einen langen Gedankenaustausch mit ihm, über die Geschichte ihres Volkes geführt. Über die zwölf Stämme Israels. Von den Anfängen, der Entstehung der Welt, der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten von Eden, und dem ersten Mord durch Kain. Sie sprachen auch über Noah und die Sintflut, über die Verbannung nach Ägypten, und über Moses, der das Volk Israel dann zurück in die Heimat geführt, und damit den Grundstein für das jetzige Königreich gelegt hat. Alles wurde seit Jahrtausenden mündlich überliefert.

Und nun hatte also König Salomo ihm, Eli, Priester des Tempels, Gelehrter der Geschichte des Volkes Israels und Schriftgelehrter, eine unbeschreibliche Aufgabe erteilt. Er sollte all das, was mündlich überliefert worden war, von Beginn an bis heute, all das, was die Geschichtenerzähler auf den Märkten Jerusalems, in den Winkeln der Gassen und in den Tavernen den Zuhörern erzählten, niederschreiben.

Im Tempel wurde eigens für diese Rollen ein Raum geschaffen. Dort sollte die Geschichte der Stämme Israels, auf kostbarem Papyrus niedergeschrieben, das extra aus dem fernen Ägypten eingekauft worden war, für immer hinterlegt werden und nachzulesen sein.

Eli schaute wieder über die Baustelle. Das Haus Jehovas. Der Höhepunkt der Geschichte Israels. Und vor der Baustelle war der Marktplatz. Händler aus Ägypten, aus dem sagenhaften Königreich Saba, aus dem fruchtbaren Land im Nordosten zwischen dem Tigris und dem Euphrat, aus Persien, und aus vielen anderen Ländern waren nach Jerusalem gekommen, um hier Handel zu treiben. Es wurde gefeilscht, geflucht, gegessen und getrunken. Keine rechte Beschäftigung vor dem Hause des Herrn. Eli runzelte die Stirn. Auch im Hause Israel war nicht alles so, wie es sein sollte. Aber er wollte nicht jammern. Salomo war ein starker und weiser König, und Israel hatte wahrlich schon schlechtere Zeiten erlebt. Die Stadt Jerusalem hatte durch König David, dem Vater von König Salomo, der als junger Krieger große Heldentaten gegen die Philister vollbracht hatte, und daraufhin zum König von Israel erklärt worden war, sehr an Bedeutung gewonnen.

Jetzt, stark befestigt, war Jerusalem, an der Kreuzung von zwei Karawanenstraßen, ein beliebter Treffpunkt für fremde Händler. Das brachte Geld in die Stadt, womit man wiederum die Stadt besser und stärker befestigen konnte, was die Stadt für Händler und Handwerker wiederum interessanter machte. Wer führte schon gerne Handel, ohne von sicheren Mauern, besetzt von disziplinierten Soldaten, umgeben zu sein. Und ohne diese Händler, ohne das Geld, was diese in die Stadt brachten, hätte auch der Tempel, das Haus Jehovas, nicht gebaut werden können. Auch Gott musste abwägen. Keine Händler, keinen Tempel. Wenn aber einen Tempel, dann auch die Händler.

Es war ein dichtes Gedränge in den Straßen und Gassen Jerusalems. Die Herbergen und Tavernen waren voller Fremder. Viel Geld brachten sie mit in die Stadt. Geld, das erst einmal bei den Geldwechslern, die gleich an den Stadttoren ihre Stände hatten, in israelische Münzen eingetauscht werden musste. Ein einträgliches Geschäft für die Geldwechsler. Es war nicht leicht, sich mit den verschiedenen Zahlungsmitteln auszukennen. So mancher Händler wurde schon dort übers Ohr gehauen, kaum dass er die Stadt betreten hatte.

Es herrschte Frieden im Land. Frieden war für den Handel immer gut. Die Händler würden schon auf dem Markt ihren Profit machen. Trotz ihres Verlustes bei den Geldwechslern.

Und die Soldaten Salomos sorgten auch dafür, dass sich die Räuberbanden von den Handelsstraßen fernhielten. Nicht nur der Handelsplatz war so gesichert, sondern auch die Wege dorthin. Denn kein Händler würde gerne in Jerusalem große Geschäfte machen, wenn er, sobald er sich außerhalb der schützenden Stadtmauern befinden sollte, alles, und vielleicht sogar sein Leben, verlieren würde.

Elis Augen wanderten weiter über den Markt, zu einer der Tavernen, wo einige Händler ein gerade abgeschlossenes Geschäft begossen. Streunende Hunde schlichen an der Küchenwand längs. Sie rochen wohl das Fleisch auf dem Feuer. Rechts in der Ecke vom Markt, im Schatten eines Hauses, saß ein Geschichtenerzähler, um den sich ein Kreis neugieriger Zuhörer gebildet hatte. Eli konnte nicht hören, was der Mann der Menge erzählte. Vielleicht ein Märchen. Vielleicht eine Geschichte aus dem reichen Ägypten. Vielleicht auch von dem sagenhaften Land Saba und seiner wunderschönen Königin. Vielleicht erzählte er aber auch eine Geschichte aus der Vergangenheit der Stämme Israels. Vielleicht eine der Geschichten, die er, Eli, Priester und Gelehrter, im Auftrag des Königs niederschreiben sollte.

Dieser Gedanke brachte ihn wieder zurück zu der Aufgabe, die ihm vom König übertragen worden war. Konnte überhaupt ein einzelner Mann dies alles niederschreiben? Wie lange würde es dauern, bis so eine Aufgabe bewältigt war? Nur noch ein paar Monde, und er würde vierzig Jahre alt werden. Wer weiß, wie lange er noch zu leben hatte. Gleich morgen musste er mit dem Hohepriester sprechen. Einer der jungen Priesteranwärter, der sich auch in der Kunst des Schreibens versuchte, sollte ihn unterstützen. Er sollte ihm beim Schreiben helfen, und nach seinem Tod das Werk fortführen.

»Als Erstes muss ich eine Gliederung erstellen«, überlegte Eli. »Die einzelnen Kapitel festlegen, damit nichts ausgelassen, nichts vergessen wird. Aber damit beginne ich erst morgen«, beschloss er.

»Heute habe ich einfach nur Lust zu schreiben. Einfach meine Gedanken in die Vergangenheit wandern zu lassen, und aufzuschreiben, was mir so einfällt. Hier in der Sonne zu sitzen, ab und zu den Fortgang der Handwerker am Tempel zu beobachten, dem Lärm des Marktes zu lauschen, und die ersten Sätze in das Wachs zu ritzen.«

Er nahm seinen Schreibstab und beugte sich über die Wachstafel.

»Am besten fange ich damit an, wie alles begann«, dachte sich Eli und fing an zu schreiben.


Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.


Und Gott sprach: „… …