Carolas 1. Flucht, 1.Tag

Herbstgewitter

 

Spät am Freitagabend trudelte Carola völlig erledigt bei mir in Lübeck ein. Wenn sich das so einspielte, dann würden wir uns wohl so gut wie jedes Wochenende sehen. Mal in Hannover, mal in Lübeck, bis ich so weit war, nach Hannover zu ziehen. Carola war, von Hannover aus, zuerst zu ihrem Bruder nach Bielefeld gefahren, um mit ihm über die Webseite ihrer Praxis zu sprechen, die dieser für sie erstellen wollte. Sie und Britta wollten ganz modern eine Webseite für ihre Praxis ins Internet stellen, um so für wenig Geld Werbung machen zu können.

Eigentlich hatten wir abgesprochen, dass wir gleich nach ihrem Eintreffen auf einen Trunk zu Horst gehen. Aber Carola legte sich erst einmal auf das Sofa, halb auf mich längs, kuschelte sich ein, wollte erst einmal nur ruhig entspannen, und von mir eine Tüte Streicheleinheiten bekommen.

Ich bin völlig geschafft“, kam es mehr murmelnd als gesprochen aus ihrem Mund.

Wenn du willst, können wir auch hier bleiben. Von mir aus müssen wir nicht noch weg.“

Aber Carola schüttelte den Kopf. Sie wollte nur kurz verschnaufen, und nachdem sie sich etwas erholt hatte, drängelte sie auch schon zum Aufbruch. Sie hatte sich bereits mit Freunden im »Carrickfergus« verabredet, um einen gemeinsamen Ausflug, der für Sonntag geplant war, noch einmal kurz durchzusprechen, und dabei na klar noch ein kühles Bierchen zu trinken. Also bummelten wir durch die bereits dunkel werdende Lübecker Altstadt. Selbst jetzt, Mitte September, war es noch angenehm warm.

Nächsten Tag, am Samstag, war dann die Sommerparty meiner Schwester angesagt, die sie jedes Jahr zum Ende des Sommers, in ihrem Garten, zusammen mit ihrem Lebensgefährten, veranstaltete.

Auch Carola freute sich, Michael, nach vielen Jahren, wieder zu sehen. Allerdings schien sie etwas nervös zu werden, als sie, nachdem sie sich noch am Vormittag mit Carmen zum Bummeln in der Altstadt getroffen hatte, bei mir wieder aufschlug. Um 16:00 Uhr sollten wir bei meiner Schwester eintreffen.

Da wir in der letzten Nacht erst morgens, als es schon hell geworden war, eingeschlafen waren, war ich, als Carola sich aufmachte, um sich mit Carmen zum Stadtbummel zu treffen, wieder ins Bett verschwunden, um noch etwas Schlaf nachzuholen, und auch gleich etwas vor zu schlafen. Carola legte sich nach ihrem Ausflug noch einmal zu mir, sodass wir erst kurz bevor wir los mussten, aus dem Bett kamen.

Weiß Michael denn, dass ich mit dir zu seiner Party komme“, fragte Carola mich, bevor wir die Wohnung verließen, um uns auf den Weg zur Party zu machen.

Nö, ich habe nur gesagt, dass ich nicht alleine komme.“

Was ist, wenn Michael es gar nicht so toll findet, wenn er mich sieht?“

Wieso sollte er? Ich denke, ihr ward früher so dicke miteinander.“ Ich war verwundert. „Das kann doch nur nett werden, wenn ihr euch nach Jahren mal wieder trefft, und ein bisschen von alten Zeiten plaudern könnt.“

Ja schon, aber vielleicht will er mich gar nicht sehen.“

Ich schaute sie baff an: „Wieso?“

Keine Ahnung.“

Mehr kam nicht von ihr.

Ich war etwas erstaunt. Sie hatten sich, wie Carola selbst gesagt hatte, seit Jahren nicht mehr gesehen, und das, obwohl Carola erst vor ungefähr einem Jahr aus Lübeck weggezogen war. Ich fragte mich im Stillen, ob die beiden sich damals im Streit getrennt haben, und Carola wegen irgendeines Vorfalles ein schlechtes Gewissen hat, sodass Michael vielleicht berechtigter Weise immer noch auf sie sauer sein könnte. Warum sollte er sonst sie eventuell nicht sehen wollen? Anscheinend war selbst Carola der Ansicht, dass Michael durchaus einen Grund hatte, ihr Wiedersehen nicht unbedingt toll zu finden. Das verwunderte mich, da Carola selbst immer von Michael als guten, wenn nicht sogar als ihren besten Freund schwärmte. Ich fragte aber nicht näher nach.

Wenn es Knatsch gibt, bleiben wir nicht lange. Wir können ja dann, statt dort zu bleiben, weiter nach Ratzeburg fahren, bei Pelz ein Eis essen, und am See spazieren gehen.“

Pelz, in Ratzeburg am Ratzeburger See liegend, ist eine der berühmtesten Eispavillons in ganz Schleswig-Holstein. Selbst Motorradfahrer von der Westküste oder der dänischen Grenze, ja selbst aus Niedersachsen und aus Meck-Pomm, sagen oft, wenn sie sonntags mit dem Bock durch die Gegend fahren wollen, nicht: »Lasst uns mal einen Motorradausflug machen«, sondern es heißt einfach nur: »Lasst uns mal zu Pelz fahren, Eis essen«, was dann eben automatisch eine Tour durchs Land beinhaltet.

Ich wusste nicht, was zwischen den beiden damals gelaufen war, wollte aber Carola auf jeden Fall anzeigen, dass ich, sollte es zwischen den beiden auf der Feier nicht gut laufen, gerne bereit sein würde, ohne großes Aufheben, mit ihr den Tag auch anders zu verbringen, dass sie mir wichtiger wäre als diese Feier.

Relativ entspannt stiegen wir, zumindest ich war entspannt, in Carolas Auto, und fuhren zur Sommergartenparty meiner Schwester. Auch ich sollte dort einige Leute treffen, die ich nach vielen Jahren das erste Mal wieder sehen würde. Der Sommer war immer noch, obwohl wir schon Mitte September hatten, voll im Gange. Wir erlebten einen gemütlichen Grillabend im Garten meiner Schwester. Auch die Ängste von Carola, dass Michael sich ihr gegenüber abweisend verhalten würde, waren unbegründet gewesen. Ich sah die beiden, noch mit anderen zusammen, die aus der Klicke, um Michael herum, stammten, sich gemütlich unterhalten. Sie tauschten wohl alte Erinnerungen aus, und selbst wenn sie dabei vielleicht auch alte Differenzen bereinigten, taten sie dies zumindest mit viel Lachen.

Als wir uns spät abends auf den Weg nach Hause machten, war Carola bester Laune. Ihre Befürchtungen waren nicht eingetroffen. Sie hatte sich mit Michael bestens verstanden, die alten Bande waren anscheinend noch vorhanden. Für Dienstag früh hatte Carola sich, bevor sie wieder nach Hannover zurückfahren musste, mit Michael sogar noch einmal zu einem Frühstück, in einem Lübecker Café, verabredet. Wir waren ziemlich aufgekratzt, als wir ins Bett kamen.

Carola schmiegte sich an mich und sagte mir verschmust, dass sie sich bei mir sauwohl fühle, dass sie davon überzeugt sei, dass ich der Richtige bin.

Das ging bei mir runter wie Honig. Der siebte Himmel war nichts dagegen.

Es war schon wieder früher Morgen, als wir einschliefen, obwohl wir nicht ausschlafen konnten, da wir uns ja zu einem Ausflug mit Freunden verabredet hatten.

 

Als der Wecker klingelte, hüpfte ich zuerst aus dem Bett. Auch wenn ich noch ein paar Stunden Schlaf hätte vertragen können, war heute nun einmal nicht mehr drin. Nach dem ich mit dem Duschen fertig war, sprang Carola unter die Dusche. Als sie sich nach dem Duschen abgetrocknet hatte, stellte sie sich nackt, nur mit einem Handtuch, wie einen Turban um ihre Haare gewickelt, vor den Spiegel, um sich die Augenwimpern an zu tuschen. Ich lehnte mich entspannt gegen den Badezimmertürrahmen und schaute ihr dabei, mit einem verliebten Grinsen und leicht amüsiert, bei dieser Farbauftragung zu.

Plötzlich drehte Carola den Kopf zu mir hin.

Guck nicht so kritisch, ich weiß, dass ich nicht schön bin.“

Klatsch. – Das hatte gesessen. Die Ohrfeige saß, auch wenn sie mich nur verbal getroffen hatte.

Ich würde aus meinem schönen Tagtraum gerissen. Carolas wütender Blick traf mich eiskalt. In meiner Überraschung kam von mir erst einmal nur: „Ich hab doch gar nicht kritisch geguckt. Ich darf doch wohl noch zuschauen, wenn du dich anmalst. Ich schau dir gerne zu.“

Dann, noch nachsetzend, nach dem ich Luft geholt hatte: „Das gehört nun einmal zu den Kompetenzen, wenn man eine Freundin hat“, und versuchte dabei, auch wenn ich völlig überrumpelt war, und über den Ausruf von Carola geschockt, verschmitzt zu grinsen.

Carola war, in Vergleich zu gestern und letzter Nacht, ganz plötzlich völlig verwandelt. So hatte ich sie noch nie erlebt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Erst später, als wir beide zu dem Treffpunkt fuhren, an dem wir unsere Freunde treffen wollten, hatte ich mich so weit gefangen, um über die Szene in meinem Badezimmer nachzudenken, während Carola mit starrem, geradezu maskenhaftem Gesichtsausdruck nach vorne schaute. Ich verstand das Theater nicht. Auch nachdem ich meine Gedanken einigermaßen sortiert hatte, blieb ich bei der Auffassung, dass es völlig normal sei, wenn man seiner eigenen Freundin zuschaut, wenn sie nackt vor dem Spiegel steht.

Ich hatte den Anblick von Carola genossen, wie sie da nackt vor dem Spiegel gestanden hat. Ich schaute Carola immer gerne an. Egal ob sie nackt vorm Spiegel stand, im Federbett eingekuschelt, sodass nur ihr Kopf zu sehen war, oder sie lesend auf dem Sofa saß. Es war ein schönes Gefühl, sie ansehen zu können. Und wenn sie, so wie letzte Nacht, der Meinung war, dass ich der Richtige für sie sei, dann durfte ich sie ja wohl auch angucken. Wenn nicht ich, wer denn sonst?

Mir fiel wieder ihre panische Eifersucht wegen der Schwedischlehrerin ein. So wie sie sich verhielt, könnte man fast meinen, sie glaubte, ich halte sie nur als Trostpreis so lange bei mir, bis ich meinen Hauptgewinn finden würde. Sie schien wirklich zu glauben, sie wäre nur ein Trostpreis. Dabei müsste Carola sich doch eigentlich darüber im Klaren sein, dass ich für einen Trostpreis nicht mein geliebtes Schweden aufgegeben hätte, in dem außerdem, anscheinend nach Carolas Vorstellung, nur Hauptgewinne herumlaufen.

Wir wollten an diesem Tag, mit unseren Freunden zusammen, nach dem kleinen Ort Schmilau fahren, ungefähr fünf Kilometer südlich von Ratzeburg, in dem es einen kleinen Freizeitpark gibt. Von dort war geplant, auf einer stillgelegten Bahngleisstrecke, mit einer Draisine nach Ratzeburg und wieder zurückzufahren. Es war ein lang geplanter Sonntagsausflug von Carmen, Hans, Peter und Carola. Ein Geburtstagsgeschenk für Horst, der zwar bereits vor ein paar Monaten Geburtstag gehabt hatte; da allerdings die Vorbereitung für solch eine waghalsige Expedition nun einmal mehrere Monate in Anspruch nimmt, wurde erst jetzt etwas daraus. Sammelpunkt für den Aufbruch dieser Expedition war die Kneipe von Horst.

Beim Treffpunkt angekommen wollte Carola mit Carmen zusammen in ihrem Auto fahren, mal wieder ein Frauengespräch führen. Wir restlichen setzten uns bei Hans ins Auto und führen los. Das Wetter war, wie immer in diesem Sommer, toll. Es würde ein schöner Tag werden. Auf der Fahrt nach Schmilau musste ich allerdings ständig an Carola denken. Seit ihrem emotionalen Ausbruch, bei mir im Bad, war sie wie verwandelt, und das hatte sich auch, als wir die anderen vor der Kneipe von Horst getroffen hatten, nicht gebessert. Im Gegenteil. Ihr Verhalten war, während wir vor der Kneipe auf Horst warteten, noch abweisender, und das fast schon in einer aggressiven Art und Weise mir gegenüber, wie ich es bei ihr noch nie erlebt hatte.

 

Wobei »noch nie« falsch war. Ihre berüchtigte »mich Verurteilungs-E-Mail«, sechs Jahre vorher, war auch aggressiv gewesen. Aber so weit zurück dachte ich damals, auf den Weg nach Schmilau, nicht.

 

Im Freizeitpark Schmilau angekommen setzten wir uns erst einmal alle an einen langen Tisch, der dort im Freien für die Besucher aufgestellt war, und machten Lunchpause. Die Fahrt mit der Draisine würde einige Kondition und Kraft fordern, da mussten wir uns vorher ordentlich stärken. Carola sorgte dafür, dass sie so weit wie möglich von mir entfernt, sich hinsetzen konnte, in dem sie wartete, bis ich mich selbst gesetzt hatte. Dann erst setzte sie sich an das andere Ende des Tisches. Weiter weg von mir, sollte sie nicht so verwegen sein, sich gleich ganz an einen anderen Tisch zu setzen, ging nicht.

Frisch gestärkt bestiegen wir dann eine Draisine, und mit Muskelkraft ging es Richtung Ratzeburg. Kreuzten die Gleise eine Landstraße, musste vor der Straße gehalten werden. Zwei von uns hielten mit Fahnen den Straßenverkehr auf, die Draisine fuhr auf die andere Straßenseite, die beiden mit den Fahnen wurden wieder eingesammelt, und es ging weiter. Während die Männer abwechselnd mit Muskelkraft die Draisine weiter Richtung Ratzeburg bewegten, Carmen sich die Landschaft anschaute, stand Carola in der hintersten Ecke der Draisine, starrte auf dessen Fußboden oder in die Landschaft, ständig bemüht, meinem Blick auszuweichen.

So kamen wir in Ratzeburg am dortigen Bahnhof an, an dem das Draisine-Gleis an einem Poller endete. Wir bummelten alle den Bahnsteig längs zum Bahnhofscafé, schauten uns da ein bisschen die Umgebung an, klönten ein wenig, und wollten dann langsam wieder Richtung Schmilau zurückfahren. Carola war mir, stumm wie ein Fisch, die ganze Zeit ausgewichen. Als sie sich, immer noch stumm, wieder Richtung Draisine schlich, hängte ich mich an ihre Fersen und ging auch stumm, ungefähr zwei Meter neben ihr, in die gleiche Richtung. Die anderen hatten sich derweil noch in dem Bahnhofscafé etwas angesehen, Carola und ich waren alleine auf dem Bahnsteig. Näherte ich mich ihr, wich sie aus, achtete darauf, dass der Abstand gewahrt blieb.

Plötzlich, völlig unerwartet, stürmte Carola auf mich zu und umschlang mich mit beiden Armen. Sie presste sich an mich, ich kann es gar nicht anders beschreiben, wie eine Ertrinkende auf dem weiten einsamen Meer, die plötzlich auf einen großen schwimmenden Baumstamm gestoßen war, und diesen, voller Verzweiflung und Hoffnung auf Rettung, umklammerte. Ich schien für eine Ertrinkende der einzig vorhandene Rettungsring, auf der einsamen, gefährlichen, großen See zu sein. Ich war erstaunt, verwirrt, und da das alles völlig unerwartet passierte, total von den Socken. Anders ist es nicht zu beschreiben. Genau diese Gefühle hatte ich, als Carola mich regelrecht umklammerte und sich an mich presste.

Vorsichtig legte ich meine Arme, oberhalb ihrer Hüften, um sie, drückte sie vorsichtig, obwohl das eigentlich nicht ging, da sie sich schon fest an mich presste, näher an mich.

Mädchen, was ist denn los mit dir“, fragte ich, so zärtlich, wie es nur ging.

Sofort ging durch Carola ein Ruck. Sie stieß mich weg. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck sehen. Ein gequälter, total verzweifelter Ausdruck, der sich in dem Augenblick, als ich ihn zu sehen bekam, wieder in die abweisende, steinerne Maske veränderte, wie sie es schon den ganzen bisherigen Tag gewesen war.

Nichts. Mit mir ist nichts.“

Und schon ging sie wieder stumm, mit versteinertem Gesicht auf den Bahnsteig vor sich blickend, zwei Meter neben mir her. Kam ich ihr näher, wich sie mir wieder aus.

Was ist mit dir?“

Keine Antwort. Ein weiterer Schritt zur Seite, von mir weg.

Das war es für heute. Es war kein Herankommen mehr an Carola. Die anderen stießen zu uns, wir fuhren alle mit der Draisine wieder zurück nach Schmilau, fuhren von dort wieder mit den Autos nach Lübeck, und saßen den Abend bei Carmen und Hans im Hinterhof, bis es dunkel wurde. Wobei ich, zumindest für Carola, gar nicht anwesend schien.

Irgendwann gingen Carola und ich nach Hause und legten uns dort ins Bett, um zu schlafen, wobei ich mir nicht klar war, ob Carola wirklich schlief oder nur so tat. Auf jeden Fall hatte sie abweisend den Rücken zu mir gewandt, lag wie ein Eisklotz neben mir und blockte stumm jeden Annäherungsversuch von mir ab. Ich legte mich mit offenen Augen auf den Rücken und grübelte. Aber die Gedanken liefen im Kreis, ohne an ein Ziel zu kommen.

Wow – was für ein Sonntag. Irgendwie hatte ich ihn mir anders vorgestellt. Vor knapp vierundzwanzig Stunden, am gleichen Ort, hatte es noch geheißen, sie fühle sich bei mir sauwohl, und ich wäre der Richtige.